Ein Auto ist an einer Bushaltestelle in eine Menschenmenge gerast. Zehn Verletzte liegen auf der Straße. Ein Horrorszenario. „Weil wir nicht wissen, ob es sich um einen terroristischen Akt handelt, ist daraus eine Polizeilage geworden“, beschreibt Peter Zimmermann die Situation am Ort des Unglücks. – Nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche am 19. Dezember 2016 klingt das gar nicht so absurd.

Die Polizei gibt Entwarnung. Jetzt muss der „ganz normale“ Rettungsdienstablauf koordiniert werden. „Ganz normal“ heißt in dem Fall: Großschadenslage. Wohin mit all den Verletzten? Deren Versorgung erfordert mehr medizinische Hilfe und Abstimmung, als es im sonstigen Alltag der Fall ist.
Andrea Lein, Amtsärztin der Kreisbehörde, agiert als Leitender Notarzt des Rettungsdienstes am Einsatzort. Sie eilt zum Leitfahrzeug für weitere Absprachen. Gleich zwei davon stehen vor der Halle.
„Ich bin eigentlich Besucher“ sagt Karin Schwabe, Notärztin aus Gotha. Sie befindet sich nicht im Einsatz, sondern verfolgt das Geschehen an einer Platte. Die ist beim Rettungsdienst Schmolke im Gewerbegebiet Ohrdruf aufgebaut. Was einer großen Anlage für Modelleisenbahnen ähnelt, dient der Schulung für den Ernstfall. Straßenzüge, Häuserzeilen, Grünzonen sind angelegt. Sogar eine Baustelle mit Kran ist am Rand der mehr als zehn Quadratmeter großen Fläche eingerichtet.
Karin Schwabe bemerkt, dass die Feuerwehr noch in der Warteschleife steht. Die Kameraden warten auf die Entscheidung der Koordinierungsstelle, wo Not am Mann ist. Die ersten Gedanken gelten den Verletzten. „Der Hubschrauber ist geordert“, ruft Amtsärztin Andrea Lein in die Runde.
In Wirklichkeit schwebt er nicht heran. Hier geht es um Abläufe und Abstimmung. „An der Platte können wir Szenarien so durchspielen, dass dann alle Kräfte zum Einsatz kommen“, erklärt Peter Zimmermann. Er ist Vorsitzender des Vereins „Rettop“, der diese Form der Fortbildungen organisiert.
Andrea Lein spricht sich in den Einsatzleitwagen mit Organisationsleiter Stefan Kochab. Sabrina Herold und Jens Hellmund nehmen eingehende Anrufe entgegen, leiten Meldungen weiter. Ähnlich agieren Karmen Franke, Tino und Matthias Nöhrhoff von der Bergwacht Tambach-Dietharz im Wagen daneben. Sie registrieren und dokumentieren die Abläufe.
Hier verblutet kein Mensch
Die anderen Rettungskräfte überlegen in Ruhe an der Platte. Hier verblutet keiner. Dafür muss viel Papierkram abgearbeitet werden.
„Draußen, am Einsatzort, ist das auch so“, berichtet Peter Zimmermann. „Jeder Patient ist am Ende eine Nummer. Die bleibt bis zum Krankenhaus.“ Niemand darf verloren gehen. So wird ständig notiert, wo sich welcher Patient befindet, ob am Unfallort, im Behandlungszelt, oder auf dem Weg in die Klinik ist. Lebensbedrohlich könnte es für Schwerstverletzte werden, würden sie in ein Krankenhaus transportiert, das Schwerstverletzte nicht adäquat behandeln könnte.
Auch freie Kapazitäten gilt es ständig abzufragen. Eine ganze Armada von Feuerwehrautos und Saniwagen in „Matchbox“-Größe steht griffbereit in Reichweite. Nach Bedarf werden sie auf der Planspielplatte in Position gebracht.
So unrealistisch ist das Szenario nicht. Peter Zimmermann verweist auf den Unfall bei Bad Tabarz vor wenigen Wochen mit neun Verletzten. Alle Rettungswagen im Landkreis wurden benötigt. Und seit Freigabe der ICE-Strecke Erfurt-München, die auch durch den Kreis Gotha führt, denken Andrea Lein und ihre Helfer in anderen Dimensionen – die sich hoffentlich nur auf der Platte abspielen.

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Wieland Fischer / 06.01.2018
Quelle: Thüringer Allgemeine / 06.01.2018